Bei den Feierlichkeiten zum 30-jährigen Bestehen der NASF, der New Alcantara Studies Foundation, die Stipendien für talentierte Studentinnen und Studenten vergibt, hält Chief Justice Finnegan eine kurze Rede.
Ladies and Gentlemen!
Fiat justitia et pereat mundus - es geschehe Recht, und wenn die Welt daran zu Grunde geht. Man wird kaum einen Juristen finden, der diese Floskel nicht kennt, stellt sie doch die Grundlage unseres Rechtssystems da: Das Recht gilt immer.
Mit diesem Prinzip lässt sich recht gut Recht sprechen. Zumindest, bis man zum Supreme Court kommt, denn die Verfassungsgerichtsbarkeit nach diesem Prinzip auszurichten, erscheint doch eher schwierig, um es vorsichtig zu sagen.
Unsere Verfassung stellt die rechtliche Grundlage unseres Staates dar, ein festes Fundament, auf dem unsere Rechtsordnung steht. Sie ist ein festes und gegen Änderungen sehr resistentes Fundament, wie man an den gescheiterten Änderungsversuchen schon bemerkt hat. Trotzdem hat man einfach das Problem, dass die Bestimmungen unserer Verfassung und die Realität nicht immer übereinstimmen. Nun kann man die Realität in den meisten Fällen nur ziemlich schwer mit der Verfassung in einklang bringen, schließlich lässt sich die Realität nunmal einfach auch durch Verfassungsrecht nicht immer so ausgestalten, wie wir das wollen. Schwerkraft ist durch die Verfassung ebensowenig abzubedingen wie Regenwetter, um hier einmal etwas überspitze Beispiele zu bringen.
Änderungen, um die Verfassung mit der Realität in Einklang zu bringen, gestalten sich bei unserem Procedere zur Änderung der Verfassung auch schwierig.
Was tut man also, um diese Divergenz zu schließen?
Die Lösung lautet in meinen Augen: Auslegung. Unsere Verfassung mag schwer zu ändern sein, sie ist jedoch leicht auszulegen - nicht umsonst haben die Verfassungsväter in der Amada Convention weitgehend sehr allgemeine und wenig konkrete Formulierungen gewählt. Sie eröffnen der Politik und vor allem dem Supreme Court die Möglichkeit, durch die Auslegung der einzelnen Passagen das Verfassungsrecht an die Gegenbenheiten anzugleichen.
Es ist die große Herausforderung unserer Tage, die Verfassung so auszulegen, dass sie für die Anforderungen dieser Zeit gewappnet ist. Natürlich gibt es Bereiche, die einer Auslegung nur begrenzt zugänglich sind - sie alle werden mit mir übereinstimmen, dass die Grundrechte, auf denen die Vereinigten Staaten ein System der Freiheit und Gerechtigkeit aufgebaut haben, nicht zur Disposition der richterlichen Auslegung stehen können, zumindest so lange diese das Ziel haben sollte, ihre Geltung einzugrenzen.
Jedoch gibt es andere Bereiche der Verfassung, bei denen dies der Fall ist. Ich sehe dies gerade bei den Kompetenznormen der Verfassung. Unsere Verfassungsväter haben, zu recht, wie ich finde, den Vereinigten Staaten eingedenk unserer Geschichte, ein föderalistisches System verschafft, dass den Staaten sehr weitgehende und dem Bund nur sehr begrenzte Kompetenzen verschafft. Dies erweist sich nicht immer als praktikbel oder sonderlich effektiv. Ich bin bei Gott niemand, der dem Zentralismus das Wort führen würde, aber bei realistischer Betrachtung unserer Nation muss man erkennen, dass es reale Gegebenheiten gibt, die mehr zentralistisches Handeln - und somit weiter gefasste Bundeskompetenzen - verlangen.
Es muss und wird also die Aufgabe des Supreme Court sein, durch die Auslegung unserer Verfassung eben diese mit der Realität in Übereinstimmung zu bringen. Das kann nicht bedeuten, blind in eine Richtung zu laufen, entweder für mehr Föderalismus oder mehr Zentralismus. Man muss abwägen und sorgfältig entscheiden. Wir sind ein föderalistischer Bundesstaat, wir werden das bleiben. Die Herausforderung ist es, das Maß an gewünschtem Föderalismus und notwendigem Zentralismus zu finden und immer wieder aufs neue festzulegen.
Das ist die Aufgabe, die ich für mich als Chief Justice und Oberhaupt des Verfassungsgerichtes dieses Staates vorrangig im Bereich der Verfassungsgerichtsbarkeit sehe. Ich sehe das aber auch und vor allem als die Aufgabe der Politik, die sich nicht darauf berufen kann, dass der Supreme Court hinterher einen entsprechenden Gesetzeswildwuchs auf entsprechende geeignete und verfassungsmäßig nötige Maß zurückstutzen wird. Sie muss sich statt dessen vorher die Gedanken machen und selbst versuchen, das geeignete Maß in der politischen Arbeit in einem Abwägungs-, Beratungs- und Abstimmungsprozess zu finden. Denn es ist nicht die Aufgabe des Supreme Court, Politik zu machen - der oberste Gerichtshof ist dazu da, um das Recht und die Verfassung zu wahren. Alles andere obliegt der Politik.
Vielen Dank.