Bevor ein Entschluss gefasst wird, ist die Lage zu beurteilen. Das heisst, die
feindlichen und
eigenen Möglichkeiten unter Berücksichtigung aller die Aktion beeinflussenden Faktoren zu
erkennen und zu
bewerten.
Im Gefecht muss die Lage häufig unter Zeitdruck und physischer und psychischer Belastung beurteilt werden. Es besteht deshalb die Gefahr, dass die Lage oberflächlich und lückenhaft beurteilt wird. Dem entgeht der Führer, wenn er sich zwingt, die Lage nach
stets gleichbleibendem Denkvorgang zu beurteilen. Aber nicht nur das: soll ein Denkvorgang reflexartig angewendet werden können, muss er sehr
einfach sein. Ein Vorgehen, das in zahlreichen Schritten die verschiedenen in der Beurteilung der Lage wichtigen Elemente wie Gegner, eigene Mittel, Gelände, Witterung und zeitliche Verhältnisse unabhängig voneinander zum Auftrag in Beziehung setzt und die Resultate später zu kombinieren sucht, um gegnerische und eigene Möglichkeiten zu erkennen, entspricht dieser Forderung nicht. Es ist zu kompliziert und überfordert in vielen Fällen unser Gedächtnis.
Im Gefecht muss das Erkennen einer gegnerischen oder eigenen Möglichkeit nur aus einem einzigen, allerdings alle wichtigen Elemente zusammenfassenden Schritt bestehen. Die nachfolgende Darstellung zeigt, wie diese Forderung verwirkicht werden kann.
- Denkvorgang 1: Was kann der Gegner unter Berücksichtigung der Umwelt mit welchen Mitteln in welcher Zeit tun, um mich am Erfüllen meines Auftrages zu hindern?
- Resultat: Feindmöglichkeiten
- Denkvorgang 1a: Bewertung der Feindmöglichkeiten in bezug auf ihre Bedeutung für das Erfüllen des eigenen Auftrages.
- Resultat: Eventuell: wahrscheinlichere/weniger wahrscheinlichere und gefährlichere/weniger gefährlichere Feindmöglichkeiten.
- Denkvorgang 2: Was kann ich unter Berücksichtigung der Umwelt mit welchen Mitteln in welcher Zeit und in bezug auf die Feindmöglichkeiten tun, um meinen Auftrag zu erfüllen?
- Resultat: Eigene Möglichkeiten
- Denkvorgang 2a: Bewertung der eigenen Möglichkeiten in Bezug auf die Auftragserfüllung
- Resultat: Vor- und Nachteile der verschiedenen eigenen Möglichkeiten
Denkvorgang 1:
Die Absicht des Gegners ist unbekannt. Der Führer ist deshalb auf andere Anhaltspunkte angewiesen, um herauszufinden, was der Gegner tun könnte: auf dessen taktische Doktrin und auf das, was er zusätzlich in der konkreten Lage über den Gegner, die eigenen Kräfte und die Umwelt weiss. Das ist nur theoretisch viel. Praktisch verfügt der Führer meistens nur über spärliche und teilweise unsichere Grundlagen, um die Lage zu beurteilen. Es ist deshalb schwierig, die wirklichkeitsnahen Feindmöglichkeiten zu erkennen. Viel
Vorstellungskraft ist dazu nötig. Sie ist aber durch
Sachlichkeit und
Unvoreingenommenheit zu zügeln, wenn das Resultat einigermassen brauchbar sein soll.
Denkvorgang 1a:
Nicht alle Feindmöglichkeiten beeinflussen das Erfüllen des eigenen Auftrages in gleicher Weise. Ihre Bedeutung ist deshalb zu bewerten. Sie hängt davon ab, wann, wo und wie stark eine feindliche Aktion das Erfüllen des eigenen Auftrages beeinflussen kann. Ist die feindliche Aktion nur mit schwachen Kräften und erst kurz vor dem Erreichen des eigenen Angriffsziels denkbar, ist sie weniger gefährlich als der feindliche Angriff starker Kräfte aus der Flanke in die sich zum Angriff entfaltenden eigenen Kräfte. Besonders gefährlich ist eine Feindmöglichkeit, wenn sie das Erfüllen des Auftrages rasch und nachhaltig in Frage stellen kann. Wenn sie aber wenig wahrscheinlich ist, wird sie beim Formulieren eigener Möglichkeiten eine kleinere Rolle spielen als eine etwas weniger gefährliche, aber sehr wahrscheinliche Möglichkeit. Als wahrscheinlich kann eine Feindmöglichkeit vor allem dann beurteilt werden, wenn
- Vorbereitungen dazu erkannt sind,
- sie als logische Folge des bisherigen Vorgehens und Verhalten des Gegners bezeichnet werden darf,
- sie grundsätzlich in den Rahmen seiner taktischen Doktrin passt und
- der Gegner über Mittel verfügt, sie zu verwirklichen.
Der Führer muss sich bei der Bewertung der Feindmöglichkeiten vor vorgefassten Meinungen hüten: Aussagen über die Gefährlichkeit und die Wahrscheinlichkeit sind mit Anzeichen zu begründen.
Denkvorgang 2:
Eigene Möglichkeiten zu erkennen, verlangt vom Führer kreatives, unvoreingenommenes und umfassendes Denken. Wann zu handeln ist, diktiert allerdings häufig die Lage. Der Führer muss sich deshalb vorerst im klaren sein, wieviel Zeit ihm zum Handeln zur Verfügung steht, so dass er nur eigene Möglichkeiten entwickelt und für die weitere Beurteilung übernimmt, die zeitlich machbar sind. Auch das Gelände spielt sehr häufig eine einschränkende Rolle und bestimmt, was überhaupt möglich ist. Die sorgfältige und umfassende Geländebeurteilung spielt deshalb beim Erkennen eigener Möglichkeiten eine wesentliche Rolle. Ebenfalls wichtig ist das Kräfteverhältnis, wenn sich der Entschluss auszuwirken beginnt. Es bestimmt weitgehend, was einem Verband taktisch zugetraut werden kann. Aber der Führer hat hier grösseren Spielraum als bei der Zeit und dem Gelände: fehlende Kräfte können beispielsweise durch Überraschung, höheren Kampfwillen oder bessere Führung wettgemacht werden.
Denkvorgang 2a:
Um die Vor- und Nachteile einer Lösung zu erkennen, ist zu beurteilen, wie sich ihre besonderen Merkmale auf das Erfüllen des Auftrages auswirken.
Eine Lösung setzt zum Angriff vielleicht nur schwache Kräfte, aber sofort, in günstigem Gelände und gegen den Schwachpunkt der gegnerischen Kräfteaufstellung ein. Diese Lösung bereinigt die Lage rasch und nützt die momentane Schwäche des Gegners aus; gelingt sie jedoch nicht, kann erst einige Stunden oder Tage später mit stärkeren Kräften angegriffen werden. Eine andere Lösung könnte darin bestehen, später und mit stärkeren Kräften anzugreifen. Sie hätte den Vorteil, die eigene Aktion gründlicher vorbereitet und besser unterstützt beginnen zu lassen, ist aber mit dem Nachteil verbunden, dass der Gegner sich bis zum Angriffsbeginn verstärken könnte.